Zum Inhalt (Access key c)Zur Hauptnavigation (Access key h)Zur Unternavigation (Access key u)
 

Am Anfang war das Leinen

05.12.2019

Im Erzählcafé erinnern sich Zeitzeugen an „Alte Zeiten“

Gut besucht: das Erzählcafé zum Thema „Textilindustrie“ in der Weberei.
Gut besucht: das Erzählcafé zum Thema „Textilindustrie“ in der Weberei.

Hunderte Webstühle sollen im 18. Jahrhundert in Gütersloher Wohnungen aufgestellt gewesen sein. Der zeitgenössische Historiker Büchler berichtet, „dass zu Gütersloh und umliegender Umgegend vielleicht das kostbarste Garn Deutschlands“ gesponnen wird. Zwei Drittel der Bevölkerung sollen vor 200 Jahren von der Spinnerei gelebt haben. Da liegt es nah, dass Kirsten Reckeweg, städtische Koordinatorin für Erinnerungskultur, die Textilwirtschaft als erstes Thema ihres neu aufgelegten „Erzählcafés“ gewählt hat.

Mit ihren Gästen Stephan Grimm (Stadtarchiv), Rüdiger Uffmann (Museum Wäschefabrik Bielefeld), Reinhard Maas (Maass Naturwaren), Otto Weddingen (Bielefelder Leinen) und Stadtführerin Ilse Westerbarkei sowie zahlreichen Bürgerinnen und Bürgern suchte sie das Gespräch über das Auf und Ab eines aussterbenden Gewerbes. Preisverfall, kulturelle Veränderungen und schwierigste Arbeitsbedingungen haben die Branche der Spinnenden, Webenden und Nähenden in Europa inzwischen in Nischen abgedrängt.

In der Textilwirtschaft steht heute der Handel im Fokus


Maas, der mit seinem Naturwarenhandel stark auf Öko und Bio ausgerichtet ist, kann weiterhin Teile seiner Kollektionen in der Region fertigen lassen, weil er „auf die Preiskämpfe der ‚Kik‘- und ‚Primark‘-Konzerne nicht reagieren muss“. Der klassische Handel komme aber nicht umhin, in Polen, Ungarn oder Bangladesh fertigen zu lassen. Weddingen, der als Weißnäher in Herford mit nur noch kleiner Belegschaft vorwiegend Deckchen und Schals für Altäre fertigt, beklagt den verlorengehenden Sinn für das Schöne und Akkurate. „Wer legt heute noch Wert auf einen ästhetisch gedeckten Sonntagstisch oder das sorgfältig bezogene Bett? Für das Edle gibt es keinen Markt mehr.“

„Es gibt immer Marktschwankungen,“ entgegnet ihm Rüdiger Uffmann vom Bielefelder Wäschemuseum. Dabei beruft er sich auf Produktionsstatistiken, nach denen die Handarbeit am Spinnrad oder Webstuhl mehr und mehr durch Dampfmaschinen, später von elektrischen Antrieben ersetzt worden ist. „Die Welt der Textiler war schon immer global aufgestellt. Arbeit wanderte in Länder mit niedrigeren Löhnen, da konnte nicht jeder Unternehmer mithalten.“ Am Ende des 19. Jahrhunderts hat Gütersloh noch davon profitiert, denn in Bielefeld und Herford war der Arbeitsmarkt leergefegt. Selbst infrastrukturelle Angebote wie Kleinkindschulen, Mädchenwohnheime, eine firmeneigene Sparkasse oder ein Konsumladen auf dem Betriebsgelände lockten keine neuen Mitarbeiter an. An der Dalke hingegen warteten arbeitslose Menschen auf Einkommensmöglichkeiten in aufstrebenden neuen Firmen.

Unternehmenssterben auch in Gütersloh


Um 1900 gab es in den sieben großen Fabriken über 700 Arbeitsplätze für Männer, Frauen und zum Teil auch Jugendliche und Kinder. Der Aufschwung hielt hundert Jahre an. Dann gingen sogar die Großen in Konkurs oder schalteten ihre Maschinen ab. Dem Sterben fielen in Gütersloh namhafte Betriebe, teils mit Weltgeltung, zum Opfer. Vossen, Greve & Güth, Niemöller & Lütgert, Strenger & Westerfrölke, Bartels – die gibt es schon lange nicht mehr.

Auch wenn damit schwierige Einschnitte verbunden waren – die Menschen, die dort tätig waren, trauern der Arbeit nicht nach. Zu hart waren die Arbeitsbedingungen, Staub, Lärm, lange Schichten und Chemikalien setzten den Menschen an den Webstühlen und Farbbottichen oft übermäßig zu. Ilse Westerbarkei hat ihre Brüder erlebt, wenn sie von Vossen zurückkamen und als erstes Nase, Augen und Ohren von Faserrückständen säubern mussten. „Mancher Arbeiter ist davon zeitlebens krank geworden,“ erzählt sie in der Runde.

Das Erzählcafé fortsetzen


„Geschichte von unten“ erzählen, den unmittelbar Beteiligten ihre eigene Stimme geben und ihre Sichtweisen anhören – das ist der Sinn dieser Reihe des städtischen Fachbereichs Kultur. Dabei will er nicht bei der Textilindustrie stehenbleiben. Moderatorin Kirsten Reckeweg sammelt inzwischen Vorschläge für weitere Veranstaltungen. Die Geschichte des Stadtparks und Botanischen Gartens könnte näher betrachtet werden. Aber auch unsere Bestattungskultur sowie das Stiftungswesen bieten sich in diesem Format an. Für weitere Vorschläge bleibt sie offen.

Anregungen an Kirsten Reckeweg per E-Mail an krstnrckwggtrslhd