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Erzählcafé: „Bombing around the clock“

07.09.2022

Bombenkrieg auf Gütersloh – Die letzten Zeitzeugen erzählen.

Kuklik wies darauf hin, dass dies ein „Oral-History-Projekt“ ist, also mündlich überlieferte Geschichte. „Die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sind zu Beginn, ja sogar am Ende des Krieges noch sehr jung gewesen, und ihre Lebenserinnerungen können in jahrzehntelangen Bearbeitungsprozessen und von gesellschaftspolitischen Erinnerungskulturen beeinflusst worden sein“, stellte Kuklik die persönlichen Eindrücke in einen Gesamtzusammenhang. Margarete Naamann, Jahrgang 1933, machte den Anfang mit einer Erinnerung an den Beginn des Krieges am 1. September 1939: „Meine Mutter weckte mich auf und sagte ‚du bist jetzt sechs Jahre alt und es ist Krieg‘.“

„Achtung! Achtung! Primadonna meldet: Starke Kampfverbände befinden sich im Anflug auf Ida-Richard-Sechs“. Der Radiosender ‚Primadonna‘ war im Zweiten Weltkrieg ein von der Luftwaffe betriebener Luftlage-Sender im Langwellenbereich, der die Bevölkerung in Nordwestdeutschland ab 1944 über bevorstehende Luftangriffe warnte, die Abkürzung „IR6“ stand für die Planquadrat-Koordinaten der Stadt Gütersloh

Heinz Pastel, der 1944 im Alter von zehn Jahren von Hamburg nach Gütersloh umgezogen war und nach dem Krieg 34 Jahre als SPD-Ratsherr tätig gewesen ist, überreichte zum Auftakt des Erzählcafés Julia Kuklik und Felix Tiemann, Mitarbeiter im Fachbereich Kultur, eine dreihundertseitige Dokumentation zum Forschungsstand über den Radiosender, der in Brünings Busch, kurz vor Schalück (heute in Höhe des Chinarestaurants Wang), stationiert war.

Massiver Bombenangriff am 26. November 1944

Nachdem die Stadt Gütersloh 1940 und 1941 erste Bombenangriffe erlebt hatte, folgte am Totensonntag, den 26. November 1944, ein Großangriff auf OWL mit 1.100 Bombern. Der pensionierte Eisenbahner Rudolf Herrmann (92) erinnert sich noch genau an diesen sonnigen Herbsttag: „Kurz vor 11 Uhr gab es Voralarm. Mit dem Sirenengeheul wurde signalisiert, dass ein Luftangriff zu erwarten war. Unsere Familie ging in den Luftschutzkeller an der Heinrichstraße, der heutigen Carl-Miele-Straße.“

Da aber keine Flugzeuggeräusche zu hören waren, begab sich der damals 14-jährige Junge wieder nach draußen, bis um 12 Uhr „Vollalarm“ ertönte. „Wir hofften jetzt, dass Gütersloh auch diesmal wieder von einem Angriff verschont bleiben würde“, erinnert er sich. Doch zu den Sirenen gesellte sich das dumpfe, monotone, durchdringende Geräusch eines Bomberverbandes. „Wir gingen schnell wieder zurück in den Luftschutzkeller. Nach kurzer Zeit hörten wir auch schon das Pfeifen und Explodieren der ersten Sprengbomben“, erinnert sich Herrmann. „Zwei Bombenteppiche gingen auf Gütersloh nieder, je einer links und einer rechts der Eisenbahn. Besonders betroffen waren die Blessenstätte und die Eickhoffstraße, auf der anderen Bahnseite das Wohngebiet südlich der Miele-Werke.“

Zeitzeugin Margarete Naamann erzählt: „Die fürchterliche Gefahr erkannten wir Kinder noch nicht“. – „In der Blessenstätte stand das Elternhaus meiner Mutter, direkt gegenüber dem Kino ‚Universum‘. Das war die Gaststätte Meyer, später ‚Sprottendiele‘ genannt“, erinnert sich Naamann auf Nachfrage der Stadtarchivarin.

Im ganzen Stadtgebiet hatten die „Flying Fortress“ (Fliegende Festungen) genannten B17-Bomber schwerste Zerstörungen angerichtet und zahlreiche Menschen getötet oder lebensgefährlich verletzt, darunter auch viele, die in den Luftschutzkellern Zuflucht gesucht hatten. Wie trügerisch die vermeintliche Sicherheit in diesen Räumen war, wurde vor allem am Turm der Apostelkirche deutlich, der wegen seiner dicken Mauern als Luftschutzraum ausgewiesen war. Insgesamt sind dort 19 Personen durch das einstürzende Deckengewölbe getötet worden. Das Kirchenschiff hatte einen Volltreffer erhalten und wurde völlig zerstört. „Der Turm blieb stehen und ragte wie ein Mahnmal über die Trümmer und die beschädigten Fachwerkhäuser am Alten Kirchplatz hinweg“, beschreibt Rudolf Herrmann das entsetzliche Bild. Auch die Zeitzeugin Döring erinnert sich genau an den 26. November 1944: „Morgens sind wir noch in den Kindergottesdienst gegangen. Nach dem Bombenangriff wurde die Frau vom Küster mit ihrem Kind auf dem Arm tot geborgen.“

37 Bomber des Typs B-17 der US-Air Force hatten am 26. November 1944 insgesamt 212 Zehnzentnerbomben (500 Kilogramm) auf Gütersloh abgeworfen. Lediglich sieben davon detonierten nicht. Beim Angriff kamen 80 Menschen ums Leben, 52 Bombenopfer erlitten teils lebensgefährliche Verletzungen. Von den Getöteten hatten sich 47 innerhalb und 33 außerhalb von Luftschutzräumen aufgehalten.

Norbert Ellermann, Historiker und Mitarbeiter des Kreismuseums Wewelsburg, hat bereits viele Zeitzeugen zu ihren Erlebnissen im Zweiten Weltkrieg interviewt. „Ein Ausgebombter, der evakuiert worden war, sang mir etwas vor: ‚Immer abends um halb zehne, da heult die Sirene. Und alle Menschen, Groß und Klein, laufen in die Luftschutzbunker rein. Die Flak, die macht bumm bumm, doch der Tommy lacht sich krumm. Wenn dann die erste Bombe kracht, na dann gut Nacht‘.“

„Ein Haus galt nur zu 60 Prozent zerstört, wenn die Kellerdecke noch nicht zerstört war“, erklärte Dr. Michael Zirbel, der ehemalige Leiter der Gütersloher Stadtplanung. Im Erzählcafé gab er detailliert Auskunft über die damals gültigen Bestimmungen. „Ab 1943 wurde massiv bombardiert“, konstatierte der Sachverständige und interpretierte die allgemeine Situation: „Es ging nur noch darum, das Allernötigste zu sichern. Ein normales Miteinander war gar nicht mehr möglich.“

„Blindgänger“ werden auch noch in den nächsten Jahrzehnten ein Thema sein


Auf Julia Kukliks Frage, wie es sich noch heute mit den Blindgängern verhält, antwortete Zirbel: „Es gibt ja eine irre Zahl von Blindgängern. Man kann an dem Luftbild sehen, wie leicht Bombentrichter zu erkennen sind. Blindgänger allerdings nicht, das sind nur kleine, fiese Punkte. Man findet heute zwar auch nicht mehr als früher, aber die Suche ist systematischer. Ich denke, das Thema wird uns noch die nächsten Jahrzehnte beschäftigen. Man muss auch berücksichtigen, dass die Technik damals wenig ausgeprägt war, man bombardierte so ein bisschen auf gut Glück. Deswegen gab es diese Riesen-Bombings, um sicherzustellen, dass eins von den fünf Bombings auch einigermaßen traf“. „Around the clock bombing“ hieß diese Strategie der Alliierten.

Der heute 91-jährige Otto Kornfeld wurde als 13-jähriger Bub von seinem Vater mit einem ruhigen Pferd auf ein Feld an der Sundernstraße geschickt. Im Erzählcafé schildert er sein skurriles Erlebnis: „Da kam ein Mann mit seinem Fahrrad daher, näherte sich einem Loch von zirka 30 Zentimeter Durchmesser und prokelte mit seinem Klappspaten eine Zentnerbombe frei. Er rief mich ran und sagte, ‚können Sie mal eben die Leine vom Pferd wegmachen. Dann wickeln wir die gerade mal um eine Bombe und ziehen die hoch‘.
„Das hab‘ ich mitgemacht, und dann sagte er zu mir: ‚Jetzt gehen Sie mit dem Pferd mal ein bisschen weiter weg. Ich schraube mal eben den Zünder raus‘. Mit einer Wasserpumpenzange schraubte er dann den Zünder raus und rollte anschließend die Bombe ein paar Meter weiter. Das passierte nach dem Freitag, 31. März 1945, als Gütersloh schon von den Alliierten besetzt war. Später hat man noch jede Menge Blindgänger in der Tüskenheide gefunden“, erinnert sich Kornfeld.

„Was mir noch sehr am Herzen liegt ist die Geschichte über die endgültige Beseitigung der letzten Bombenschäden“, sagte Rudolf Herrmann (Jahrgang 1930) und stellte im Erzählcafé die Schätzfrage nach einer Jahreszahl. „Ich kann es sagen – vor zehn Jahren! Im Jahre 2012 sind die Bahnsteige am Gleis 1 und am Gleis 4 erneuert worden. Ein ICE, der außerfahrplanmäßig im Gleis 1 oder 4 hatte halten müssen, durfte seine Trittbretter nicht ausfahren, weil die krummen Bahnsteigkanten in das Gleisprofil reichten. Das ist dann erst im April 2012 beseitigt worden, so lange hat das gedauert“, konstatierte der pensionierte Eisenbahner, der bereits allerhand interessante Publikationen über den Bombenkrieg auf Gütersloh veröffentlicht hat.